Ich möchte Euch die Geschichte von Pavel erzählen, der jeden Freitag an der Ecke vorm Kaufhaus „Nimmesdir“ sitzt und seine Lieder singt. Jeden Freitag sitzt er mit seinem Fischerklavier da und singt von 15:07 Uhr bis 17:36 Uhr, ohne dass er Geld sammelt oder um Essen bittet. Er sitzt und erzählt mit seinen Liedern Geschichten von fernen Ländern und unbekannten Menschen, die seinen Weg einst streiften.
In irgendeinem Winter an einem Freitag vor dem vierten Advent kam ein kleiner Junge zu Pavel, gerade als er von seiner eigenen Kindheit sang und voll Leidenschaft in die alten Tasten haute. „Hallo, ich bin Julius!“, sagte der Dreinasehoch und schaute Pavel mit großen Kulleraugen an. „Hallo Julius, es freut mich dich kennen zu lernen“, sagte Pavel mit kratziger Stimme, zog seinen Lederhandschuh aus und schüttelte dem Jungen zur Begrüßung die Hand. „Ich bin Pavel. Was kann ich Gutes für dich tun?“ Julius schaute zunächst etwas verlegen. Scheinbar hatte ihn sein anfänglicher Mut verlassen. Er drehte mit seinen gelben Gummistiefeln im Matsch des Schnees, grinste Pavel an und traute sich dann doch! „Ich will gern wissen, warum du Freitags immer hier bist?!“ „Weil ich gerne singe.“ „Und warum gehst du dann nicht in einen Chor und singst da?“ „Weil ich gern alleine singe.“ „Und warum …?“ So ging das Spiel eine ganze Weile bis Julius heraus gefunden hatte, dass Pavel viele seiner Lieder von seiner Großmutter kannte oder selber spontan erfand. Dass Pavel fünf Geschwister und die schönste Frau der Welt geheiratet hatte. Das wollte Julius aber nicht so recht glauben, weil sein Vater, dass von seiner Mutter auch immer erzählte und ihr dann einen Kuss auf die Nase gab. Pavels Frau war allerdings schon bei den Sternen. Also war sie wohl die schönste Frau auf der Erde bis sie in den Himmel gegangen ist. Jetzt hat den Job Julius Mutter. Zudem erfuhr Julius, dass die zwei Kinder von Pavel sehr erfolgreich waren und er sie dadurch nur selten sah.
„Pavel?“ Julius saß mittlerweile neben dem alten Mann, der mehr Falten hatte, als Julius zählen konnte. „Und warum bist du jetzt immer Freitags hier? Und vor allem nächsten Freitag, da ist doch Weihnachten.“ Pavel streichelte Julius amüsiert über den Kopf. „Ich bin immer zur gleichen Zeit am gleichen Tag hier, damit du weißt, wann du herkommen kannst und mir jederzeit Löcher in den Bauch fragen kannst. Und ja, auch nächsten Freitag bin ich hier. Ich werde mit meinen Kindern eine dicke Weihnachtsgans verputzen und dann pünktlich um 15:07 Uhr mein Fischerklavier raus holen und meine Lieder singen.“ „Aber Pavel, wer soll dir zuhören, es sind doch alle bei ihren Familien?“ „Bist du dir da sicher?“, fragte Pavel und senkte seinen Blick. „Ja, klar!“, sagte Julius irritiert. „Dann, lass mich spielen.“ Pavel nahm sein Instrument und stimmte ein Lied an, das Wärme in sich trug und den Platz vor dem Kaufhaus ein bisschen zugänglicher machte. Julius schwieg und schaute sich um. Ein Mann blieb stehen und suchte die nächstmögliche Bank. Er setzte sich, überschlug die Beine und wippte ganz unauffällig zur Musik mit. Pavel neigte sich zu Julius und sprach während er weiter spielte: „Das ist Michael. Er hat zwar eine große Familie, doch keiner redet mehr mit ihm. Er wird zum Beispiel Freitag hier sein.“ Dann schob eine Frau in zerfledderter Kleidung einen rostigen Einkaufswagen an ihnen vorbei. Sie muffelte nach alten Socken, wie Julius fand. „Hallo Pavel“, sagte sie und hustete dabei aus Leibeskräften. „Sie wird auch da sein. Das Leben hat es nicht gut mit ihr gemeint.“ Pavel begann wieder zu singen. Julius staunte.
Immer wieder blieben Menschen stehen, lauschten und gingen weiter. Pavel konnte zu vielen etwas erzählen. Julius war wohl nicht der Einzige, der mutig war und mit Pavel sprach. Ab und an kam jemand und wollte Pavel Geld, einen Kaffee oder Essen bringen, doch er lehnte ab. Dann war es 17:36 Uhr. Pavel stand auf und packte sein Fischerklavier ein. „Pavel?“ „Ja, Julius.“ „Darf ich wieder kommen?“ „Na klar. Ich bin jeden Freitag von 15:07 Uhr bis 17:36 Uhr hier, vor dem Kaufhaus ‚Nimmesdir‘.“ Pavel verneigte sich vor Julius und zog seinen imaginären Hut. Dann ging er. „Frohe Weihnachten Pavel!“, schrie Julius ihm hinterher. Pavel drehte sich jedoch nicht um, sondern hob nur seinen Arm und winkte kurz. Julius war ganz aufgeregt und wollte sofort nach Hause und davon erzählen. Er wollte wieder kommen und zwar schon am nächsten Freitag mit seiner Familie.
– Ende –