Der Zug ratterte und als ich den Bahnhof von Berlin verließ, blieb ein Gefühl hinter mir, welches ich nicht fassen konnte. Die Sonne stand leuchtend über dem rot-weißen Eurocity Richtung Prag und beobachtete den Weg nach Südosten. Das ebene Land zog bald vorbei und von der Moderne der Großstadt blieb nur noch ein verschwommener Gedanke. Dörfer mit kleinen Häusern wechselten sich mit ebenen Flächen von Grün ab. Irgendwann klopfte ein freundlicher Mann vom Zugpersonal an die Kabine und schob die Tür mit einem Knarren auf. „Wollen Sie einen Kaffee oder Snack?“, fragte er. Der Mann mittleren Alters sprach gebrochenes Deutsch mit tschechischen Akzent und lächelte mich freundlich an. Die Auswahl war dürftig und der Kaffee roch wässrig. Ich bat ihn um einen Schokoriegel und einen heißen Becher der dunklen Flüssigkeit. „Wohin wollen Sie?“, erkundigte er sich, während er Kaffee in einen Becher füllte. „Ich reise nach Prag und möchte mir die Stadt ansehen.“ Er schmunzelte, reichte mir den Kaffee und erwiderte: „Ja es gibt schöne Dinge in der Stadt zu erleben. Das Tanzende Haus, die Prager Burg und natürlich die vielen Parks.“ Ich nahm den Kaffee entgegen und schaute den Mann an. Sein Haar war dünn und seine Stirn besaß große Geheimratsecken, die seinen haarigen Brauen ausreichend Platz der Entfaltung boten. „Dann kennen Sie garantiert auch das Faust-Haus.“ Sein Kopf erhob sich und er umfasste eine goldene Kette mit Kreuz, die an seinem Hals hing. Er schaute mich an. „Sicher. Ein nettes barockes Gebäude. Man kann es gut von Außen betrachten.“, sagte er und reichte mir den Schokoriegel. Danach holte er sein Portemonnaie aus schwarzem Leder heraus. „3,50 Euro bitte.“ Das Thema war für Ihn erledigt. Ich kramte in meiner Tasche und sprach dabei: „Ich wollte es mir gerne von Innen ansehen. Man soll ja noch alchimistische Zeichen und Symbole in dem Haus finden. Meinen Sie man kommt da so einfach rein?“ Ich reichte ihm einen Zehn Euro Schein und schaute ihn fragend an. Ein Blick aus dem Fenster offenbarte nun graue Wolken, die immer dunkler wurden und die wärmende Sonne verdeckten. „Junges Fräulein, es gibt Dinge, denen man nicht folgen sollte. Schauen sie sich die schöne Stadt an.“ , schloss er, reichte mir mein Wechselgeld und schob seinen Wagen zum nächsten Abteil. Die Wolken waren mittlerweile dunkelgrau, von der Sonne kein Anzeichen. Ich nippte an meinem Kaffee und schmeckte eine bittere Säure, die mir heiß die Kehle herunter floss. Ich verzog mein Gesicht und im nächsten Moment erschrak ich. Am Himmel erschien ein Leuchten, gefolgt vom Grollen, welches die Geräusche des Zuges übertönten. Ich lehnte mich zurück, schaute wie der Regen folgte und seine Tropfen energisch an die Scheibe platschen. Sie nahmen mir die Sicht nach Draußen. Fast blind fuhr ich in die magische Stadt, gelegen an den wilden Wassern der Moldau.
Wir hatten die Grenze passiert und die Landschaft nahm eigentümliche Konturen an. Die Berge am Horizont beugten sich nach unten und verdunkelten die Täler an ihren Füßen. Ich schloss die Augen und öffnete sie erst kurz vor Prag wieder. Kurz bevor das eiserne Ungetüm stoppen sollte, erschien der Zugbegleiter nochmal an der Tür meines Abteils. Sein Gesicht hatte sich verändert. Es war viel blasser als zuvor und seine Augen schimmerten in einer Farbe, die mir das Blut gefrieren ließ. Er kam jedoch nicht herein, sondern blieb vor der verschlossenen Tür stehen und schaute mich nur an. Sein Mund war zu einer schmalen Linie verzogen und zeigte keine Farbe von Rot. Erst in diesem Moment viel mir auf, dass er seine Hand an die Scheibe gelegt hatte und ich auf seiner Innenfläche ein Zeichen erkannte. Es war schwarz, leicht geschwungen und zeigte auf der rechten Seite wie eine Pfeilspitze nach oben. Ich starrte sie an und war wie hypnotisiert. Mein Körper war starr und lediglich mein Atmen bewirkte, dass sich meine Brust hob und senkte. „Next Stop Praha!“, ertönte es über meinen Kopf, doch ich regte mich nicht. Alles schien unwichtig. „Next Stop Praha!“, wiederholte die blecherne Stimme in den Lautsprechern. In diesem Moment löste sich der Zugbegleiter aus seiner Erstarrung, seine Augen wurden klar und erschienen auf einmal von einem satten Grün. Er schüttelte leicht den Kopf, blickte mich an und stutzte. Ich blickte zurück, langsam bewegte auch ich mich wieder, konnte aber meine Verwirrung zunächst nicht in Worte fassen. Er zog die Tür auf, nickte mir freundlich zu und sagte in gebrochenem Deutsch: „Ich wünsche ihnen eine schöne Zeit in Praha. Genießen sie die Stadt und ihre Sehenswürdigkeiten.“ Ich erhob mich, während ich ihn anstarrte und nahm meine Tasche. „Was war das gerade?“, fragte ich immer noch verunsichert. „Was meinen Sie?“ „Das Zeichen auf ihrer Hand, ihr Blick, ihre Haut?“ „Ich weiß nicht was sie meinen?“, sagte er und zeigte mir zum Beweis seine Hände. Beide waren sie leer. Nichts war darauf zu erkennen, noch nicht einmal ein Kleks verwischte Farbe. Er schaute mich an und drehte sich dann von mir weg. Bevor ich reagieren konnte, stürmten bereits neue Passagiere in den Zug. Jetzt überlegte ich, ob ich wirklich dieses Eisenmonster verlassen sollte. Ohne weiter darüber nachzudenken, ergriff ich meine Tasche und ging zum Ausstieg. Ich trat die drei Stufen hinunter und setzte meine Füße nebeneinander auf dem Bahnsteig ab. Als ich mich umdrehte, schloss sich die Tür hinter mir. Ich hörte ein Pfeifen und blickte an den Anfang des Zuges. Eine Schaffnerin erhob ihre Kelle und Dampf stieg zwischen den Rädern des Zuges empor. Dann setzte sich das Ungetüm in Bewegung. Ich schaute ihm nach und sah in der letzten Fensterscheibe noch einmal die angsteinflößenden Augen aufblitzen.
Ich hatte den Zug noch in meinen Ohren und erinnerte mich, wie es sich anfühlte in ihm zu sitzen. Auf der Reise zu sein mit einem komischen Gefühl zwischen Magen und Kehle. Ich freute mich schon auf die Rückfahrt und spürte, wie es sein musste im Zug zurück nach Deutschland zu sitzen. Prag war jedoch für mich und andere Passagiere vorerst die Endstation. Der Punkt an dem wir uns entscheiden mussten. Entweder fürs Aussteigen und Bleiben oder für eine Rückfahrt ohne große Geschichte. Ich blieb. Zu lange hatte es gedauert um hier anzukommen. Zu oft stand ich in Berlin am Gleis und hatte überlegt, ob ich diese Fahrt machen sollte. Und auch wenn der Mann wie eine Warnung in meinem Kopf schwirrte, wollte ich nicht den Weg verlassen, den ich eingeschlagen hatte. Für den ich solange gebraucht hatte.
Ich griff meinen Koffer und Hunger machte sich im selben Moment in mir breit. Ich konnte mich nicht erinnern, wann ich das letzte Mal etwas gegessen hatte. Als ich darüber nachdachte, krampfte mein Magen so stark, dass ich kurz inne halten musste und tief einatmete. Ich sah mich um, doch nichts war zu finden, was mir gefiel. Also machte ich mich auf den Weg den Bahnhof zu verlassen. Menschen strömten dabei an mir vorbei, der eine oder andere schubste mich. Sie eilten zu den Zügen oder kamen gerade an und schauten hektisch auf ihre Uhren. Es herrschte Unruhe, die mir nicht gefiel. Ich wollte hier weg. Also legte ich einen Schritt zu und es dauerte nicht lange bis ich frische Luft und etwas Grün erreichte. Mein Blick schweifte durch die Gegend. Etwas entfernt sah ich einen kleinen Laden mit drei Tischen davor. Lediglich eine Frau mit großem Schlapphut und einer Tasse Kaffee war als Gast auszumachen. Sie blätterte in einem Buch, doch schien sie es nicht wirklich zu lesen. Als ich das Lokal ansteuerte, blickte sie kurz auf. Ihre Augen waren jedoch verdeckt von einer fliegenartigen Brille. Ich musste an meine Mutter denken, die eine ähnliche getragen hatte, als ich noch klein war. Ich setzte mich an einen Tisch neben sie und nickte ihr freundlich zu. Ich konnte sehen, wie sich eine Augenbraue hinter der Brille hob. Dann wand sie sich ab und blätterte auf fast andächtige Weise in ihrem Buch. Ihre Haare waren lang und von einem intensiven Rot, wie ich es vorher nur bei Iren oder Skandinaviern gesehen hatte. Sie wellten sich und quollen unter ihrem Hut hervor. Sie wirkten fast wie ein Mantel, der sie bedeckte. Bevor ich mich weiter auf sie konzentrieren konnte, stand eine dickliche, etwas herunter gekommene Frau neben mir und schnaufte mich ungeduldig an. Sie hielt eine Karte in den Händen. Ihre Haare waren zu einem wirren Knoten gebunden und einzelnen Strähnen vielen ihr ins Gesicht.
„Du bist deutsch oder?“, fragte sie und ihr abfälliger Ton zog sich wie kleine Eisenstachel über meinen Rücken. Ich nickte nur. „Das sieht man sofort. Was willst du?“ Ich blickte kurz in die Karte und entschied mich für ein Brot mit Ei und einen Kaffee. Ich bemerkte wie mich die Frau mit Hut anstarrte. Diesmal ohne Brille. Ihre Augen waren von einem durchdringenden Grau und sie musterte mich. Sie bewegte ihren Blick von meinen Schuhen bis hoch zu meinem Gesicht, an dem sie dann hängen blieb und mir in die Augen schaute. Alles um mich herum wurde leicht verschwommen und ich nahm nur noch sie wahr. Sie öffnete den Mund und vergammelte Zähne wie Stümpfe erschienen in diesem sonst so makellosen Gesicht. Doch dieses Unheil war nicht mehr zu erkennen, als ihr ein Klang entfuhr, der durch die Luft in meine Richtung getragen wurde. Wie ein leises Flüstern, dass mich einlullte. Ich sah wie ihre Augen ganz sanft und groß wurden, wir ihre Haut leicht glühte und sie ihren Arm nach mir ausstreckte, kurz bevor sie mich mit ihrem Gesang, sofern man es so deuten konnte, in einen angenehmen Schlaf zu betten schien.
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